»Die DDR kannte ich nur aus einem Kinderlied
Studieren im Bruderland
Zwischen 1951 und 1989 studieren circa 70.000 junge Leute aus über 125 verschiedenen Ländern in der DDR, etwa die Hälfte kommt aus sozialistischen Staaten. Rund 7 Prozent der in der DDR lebenden Ausländer*innen sind als Studierende in das Land gekommen (die sowjetischen Soldaten stellen einen Sonderfall dar und sind hier nicht eingerechnet). Studierende, aber auch Lehrlinge und Praktikant*innen aus Vietnam, werden seit 1966 (Feige 1999) in der DDR ausgebildet.
Vertreterinnen eines heldenhaften Volkes
Stolz berichtete die Nachrichtenagentur der DDR: „Über 150 junge Vietnamesen, die mit Beginn des neuen Ausbildungsjahres ein Studium an Hoch- und Fachhochschulen der DDR aufnehmen werden, sind am 17.8.1971 in Berlin eingetroffen. Insgesamt sind bereits über 1.100 junge Vertreter des heldenhaften Volkes an den Universitäten der Republik immatrikuliert.“
»Unbesiegbares Vietnam«
Die DDR fühlt sich Vietnam besonders verbunden. Beide Länder sind weltpolitische Außenseiter*innen. Bilder aus Vietnam sind allgegenwärtig. Sie sind bereits vor der Ankunft der meisten jungen Vietnames*innen verbreitet und sollen die besondere Zusammengehörigkeit beider Länder betonen. So auch die Briefmarkenserie „Unbesiegbares Vietnam“. Acht Marken mit Spendenzuschlag und Auflagenhöhen von bis zu 9.000.000 Exemplaren pro Marke tragen romantisierende Bilder von Krieg, Wiederaufbau des Landes sowie arbeitsamen und fröhlichen Menschen in nahezu jeden Haushalt.
»Wir wussten, dass die Ausbildung in der DDR gut war
Wie Pham Thi Hoai reist auch Alemayehu Gebissa als Student in die DDR ein. Er kommt aus der sozialistischen Volksrepublik Äthiopien an die Wilhelm-Pieck-Universität Rostock. Das Land hat verheerende Hungersnöte durchlitten und ist von einem Bürgerkrieg zerrissenen. Seine Hochschule delegiert ihn, nachdem er bereits eine Ausbildung mit Bestleistungen absolviert hat, 1986 zu einem Aufbaustudium in die DDR.
Alemayehu Gebissa kann mit dem Aufenthalt in der DDR seinen in Äthiopien begonnenen Bildungsaufstieg fortsetzen. Eine besondere Qualifizierung und bessere Lebensverhältnisse versprechen sich auch viele Migrant*innen, die als Werktätige ins Land kommen.
Als Werktätige in der DDR
Die weitaus größte Gruppe von Migrant*innen bilden die Werktätigen in der DDR. Arbeit in der Produktion bestimmt ihr Leben. Vietnam und Mosambik entsenden ab 1979 die höchste Anzahl von Arbeiter*innen. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen sind durch bilaterale Abkommen detailliert geregelt, die das beiderseitige Interesse an einer Kooperation betonen und eine Qualifizierung in dem technologisch hoch entwickelten Land vertraglich garantieren.
Für die DDR sind die Abkommen mit Mosambik (1979) und Vietnam (1980) von größter Bedeutung. Sie sollen den dramatischen Arbeitskräftemangel in den 1980er Jahren auffangen und die Produktion aufrechterhalten. Zwar gibt es seit den 1960er Jahren Regierungsabkommen mit befreundeten Staaten: zuerst mit Polen und Ungarn, dann auch mit Algerien und Kuba. Doch ziehen sich diese Vertragspartner in den 1980er Jahren schrittweise zurück und schicken immer weniger Arbeitskräfte in die DDR, während dort der Bedarf dramatisch steigt. Die Abkommen zur „zeitweiligen Beschäftigung“ (Verträge und Interessen) mit Mosambik und Vietnam liegen unter Verschluss. Die Betroffenen kennen nur ihre Arbeitsverträge. Sie haben eigene Motive, sich um einen Platz in der DDR zu bewerben. Ihre Wege sind unterschiedlich.
Solidarität mit Mosambik
Die DDR unterstützt seit den 1960er Jahren die mosambikanische Befreiungsbewegung FRELIMO (Frente da Libertação de Moçambique) in ihrem Kampf gegen die portugiesische Kolonialherrschaft. Erst nach dem Zusammenbruch der Salazar-Diktatur in Portugal und nach elf Jahren Krieg mit etwa 30.000 Toten wird Mosambik 1975 unabhängig. Die FRELIMO übernimmt die Macht. Die meisten Portugiesen verlassen das Land. Sie hinterlassen enorme wirtschaftliche Probleme und einen eklatanten Fachkräftemangel. Um die Wirtschaft im unabhängigen Mosambik schnell wiederaufzubauen und den Analphabetismus zu bekämpfen drängt die Regierungspartei FRELIMO erfolgreiche Schüler*innen in die Berufsausbildung oder setzt sie als Lehrer*innen ein. Auch Orquídea Chongo soll ihre Schulausbildung frühzeitig beenden. Mit Unterstützung der Familie sucht sie nach anderen Entwicklungsmöglichkeiten.
»Dann hab' ich vielleicht ein besseres Leben
Aus einem »jungen Nationalstaat«
Mosambik zählt zu den Ländern, die nach dem Ende der Kolonialherrschaft von der DDR als „junge Nationalstaaten“ bezeichnet und umworben werden (Wolf 2000, 152). Neben der ideologischen Nähe dient die Unterstützung der antikolonialen Bewegungen in Afrika und Asien einem konkreten politischen Ziel: der Anerkennung der DDR durch die Regierungen der neu entstehenden Staaten. Auch wirtschaftlich verbindet die DDR-Regierung große Interessen mit der Zusammenarbeit. Zeitlich fällt die Unabhängigkeit Mosambiks mit dem drastischen Devisenmangel und der drohenden Zahlungsunfähigkeit der DDR zusammen. Das Land wird unter diesen Voraussetzungen zu einem der „ausgewählten und befreundeten afrikanischen Staaten“, denen der DDR-Regierungsapparat mit außenpolitischen Kraftanstrengungen, Sofortprogrammen und einer Exportoffensive begegnet. Ziel der Zusammenarbeit ist es, Außenhandelsüberschüsse und Devisen zu erwirtschaften (Döring 1999).
Die Idee der internationalen Solidarität ist eine ideologische Grundlage der Migration in die DDR. Doch stehen hinter der Parole auch konkrete politische und wirtschaftliche Interessen.
»Mit Geld bestochen, damit ich in die DDR gehen kann
Gerade in Ländern, die sich nach langen und zerstörerischen Kämpfen gegen die Kolonialherrschaft in einer schwierigen Aufbauphase befinden, ist die Aussicht auf die Ausreise in die DDR oft für die ganze Familie mit großen Hoffnungen und Investitionen verbunden. Um ihren Sohn vor dem Kriegseinsatz zu bewahren, setzt Nguyen Do Thinhs Mutter alle Hebel in Bewegung.
Für Frieden und VölkerfreundschaftGrußformel der Jungen Pioniere
Politische Emigrant*innen – eine Art von Asyl
Die DDR öffnet ihre Tore für eine weitere Gruppe: die sogenannten politischen Emigrant*innen. Sie sind die Einzigen, für die das Ausreisedatum nicht schon bei der Einreise geplant ist. Politische Flüchtlinge können in der DDR Asyl erhalten. Seit 1968 regelt eine Kann-Bestimmung in der Verfassung die Aufnahme von Menschen, die aus politischen Gründen verfolgt werden. Sie können in der DDR Zuflucht finden, wenn sie politisch erwünscht sind (Poutrus 2003). Als ein Akt des proletarischen Internationalismus gilt die Aufnahme bedrohter oder verfolgter Mitglieder kommunistischer „Bruderparteien“ anderer Länder.
»Am Flughafen habe ich erfahren, dass wir in die DDR kommen werden
Das Leben der Studentin Kadriye Karcı ist nach dem Putsch des türkischen Militärs von 1980 und den darauffolgenden Verhaftungswellen in Gefahr. Um sie in Sicherheit zu bringen, wird sie 1985 konspirativ in die DDR gebracht.
Venceremos!
Chilenische Flüchtlinge bilden mit circa 2.000 Personen die größte Gruppe, die als politische Emigrant*innen in der DDR Zuflucht findet. Das Land gewährt ihnen umfangreiche staatliche Unterstützung: Sie erhalten bevorzugt Neubauwohnungen, zinslose Kredite und bei der Ankunft Überbrückungsgeld (Koch 2016). Carlos Medina und seine Frau gehören der Kommunistischen Partei Chiles an. 1973 putscht das Militär, eine Hetzjagd gegen die Opposition beginnt. Medina und seine Frau flüchten in die DDR.
»Wir wollten mit eigenen Augen sehen, was der vorhandene Sozialismus war
Carlos Medina gelingt es, auch in der DDR Theater zu spielen und eine exzellente Theaterausbildung zu bekommen. Ihm hilft die Sympathie, die es in der DDR für die chilenische Politik unter der Regierung Allende gibt, sowie die Empörung über ihren blutigen Sturz. Für viele Bürger*innen der DDR-Bürger ist dies ein aufrichtiges Motiv für Solidarität mit den chilenischen Emigrant*innen. Die Regierung versucht, diese Empfindung bei zahlreichen staatlichen Solidaritätsveranstaltungen in die gewünschten Bahnen zu lenken.
Pflicht zur Solidarität
Das Prinzip der gegenseitigen Unterstützung im sozialistischen Lager, über die Grenzen der Nationalstaaten hinaus und insbesondere für unterdrückte und kämpferische Gruppen, wird von vielen geteilt. Doch führen die Privilegien, die chilenische Emigranten erhalten, bei manchen zu einer zwiespältigen Haltung. Das Solidaritätskomitee der DDR vereinnahmt den Solidaritätsgedanken mit Großveranstaltungen, Plakaten, Briefmarkenserien, und vor allem durch kollektive Spendenaktionen, denen man sich nicht ohne Nachteile entziehen kann. Die Pflicht zur Solidarität erzeugt auch Widerwillen.