Leben im Wohnheim ist in der DDR nicht ungewöhnlich. Es gibt zu wenige Wohnungen, die Vergabe erfolgt über staatliche Stellen. Studierende, Lehrlinge aber auch Arbeiter*innen werden in Wohnheimen untergebracht. Die Vorschriften in den Wohnunterkünften der ausländischen Werktätigen sind allerdings besonders strikt und werden streng kontrolliert. Besucher*innen müssen sich immer beim Pförtner anmelden und werden registriert. Auch wer das Wohnheim wann verlässt und wieder kommt wird aufgeschrieben. Unter diesen Bedingungen bleiben die Migrant*innen in ihrem Wohnheim in erster Linie unter sich.
Die Betriebe müssen sich um die Zuteilung von Vertragsarbeiter*innen bewerben und neben einem Einsatzplan in der Produktion auch Wohnraum nachweisen. Vor allem in ländlichen Gebieten ist dies nicht immer einfach. In Drei- bis Vierraumwohnungen leben in jedem Zimmer maximal vier Personen, ab 1980 stehen jeder Person fünf Quadratmeter „persönlicher Raum“ zu (Vgl. Mac Con Uladh 2005 b, 53). Zum Kochen gibt es Gemeinschaftsküchen. In manchen Unterkünften bereiten Köch*innen das Essen für alle zu. Häufig nehmen die Arbeiter*innen ihre Mahlzeiten in der Betriebskantine ein, Studierende essen in der Mensa. Auf Gewohnheiten, kulturelle Vorlieben oder religiöse Vorschriften wird bei der Essensversorgung kaum Rücksicht genommen.
»Schwarzbrot, was ist das?
Jährliche Kontrollberichte
Die Betriebe müssen dem Staatssekretariat für Arbeit und Löhne jährliche Kontrollberichte über den Einsatz der Vertragsarbeiter*innen vorlegen. Verschiedene Punkte wie Stand der Qualifizierung, Arbeitsdisziplin, Gesundheitszustand, politische Einstellung und Verhalten in der Freizeit werden hier abgefragt. Die Berichte fallen unterschiedlich aus. Viele sind sachlich und schildern vor allem Probleme in der Produktion. Aber es gibt auch zahlreiche Beispiele, die ein paternalistisches Verhalten der deutschen Betriebsangehörigen gegenüber den ausländischen Werktätigen deutlich machen. Hier ist viel von Erziehung die Rede – aber auch vom Eigensinn der Migrant*innen.
Zum Beispiel Görlsdorf
In der Volkseigenen Genossenschaft Tierproduktion Görlsdorf sind 25 mosambikanische Vertragsarbeiter im Einsatz. Sie wohnen direkt auf dem landwirtschaftlichen Betriebsgelände. Im besonders detaillierten Kontrollbericht von 1982 werden die Probleme im Freizeitbereich aus Sicht des Verantwortlichen im Betrieb ausführlich beschrieben.
„Wir sind der Meinung daß die Lohngelder nicht richtig eingesetzt werden (…). Unsere Hinweise in diese Richtung werden nur selten befolgt (…). Andererseits fehlt es an wichtigen Dingen wie Sportbekleidung und Brotbüchsen (…).
So mussten wir feststellen, daß mit zunehmendem Aufenthalt bei uns die mocambiquanischen Kollegen sich mehr und mehr dem Alkohol zuwandten. Dies führte dazu, daß Discoveranstaltungen mehrfach (…) in Schlägereien endeten. Uns ist klar, daß nicht immer die mocambiquanischen Kollegen Verursacher sind. Dennoch habe wir uns Gedanken gemacht, wie wir sie an eine sinnvolle Freizeitgestaltung heranführen können (…).“ (BArch 3)
Görlsdorf in der Presse
Die staatliche Nachrichtenagentur ADN kommentiert dieses Foto mit der Bildunterschrift: „Eine Ausfahrt mit dem Pferdewagen hat jeder gern, auch diese jungen Männer aus Mocambique. Gemeinsam mit ihren DDR-Freunden lernten sie so den Kreis Luckau besser kennen, der für vier Jahre ihr Zuhause ist. Im VEG Tierproduktion Görlsdorf werden sie zu Facharbeitern ausgebildet und arbeiten in den beiden 2000er Milchviehanlagen. Zu den Einwohnern von Görlsdorf haben die jungen Leute aus dem fernen Afrika guten Kontakt. (Achtung Redaktionen: Fotos zu den Tagen der Freundschaft FDJ – OJM vom 3.-10.7.81).“
Sinnvolle Freizeitgestaltung
Im Kontrollbericht des Betriebs heißt es weiter:
„Seit September 81 werden wöchentlich 2 Stunden organisierter Sportunterricht durchgeführt. Hier müssen wir einschätzen, dass die meisten mocambiquanischen Kollegen diese Maßnahme nicht ernst nehmen. Die Forderung zur Beschaffung von Sportkleidung wurde nicht befolgt. Ausser dem organisierten Sport wird gerne Fußball gespielt (…). Die organisierte Mitarbeit in unserer Landsportgemeinschaft ‚Pferdesport‘ wurde bisher auch nicht in Anspruch genommen.“
Der Bericht endet mit den Worten:
„Wir müssen auch einschätzen, dass viel erzieherische Arbeit bei unseren moc. Kollegen noch nötig ist, weil es zur Zeit immer noch solche Ideologien gibt: Wir machen unsere Arbeit und in der Freizeit müssen wir schlafen oder spazieren gehen.“
Werktätige der sozialistischen Landwirtschaft! Kämpft um hohe Erträge auf dem Feld und im Stall!Losung des Zentralkomitees der SED zum 1. Mai 1975
Freizeit selbstbestimmt
Wie sie ihre Freizeit verbringen, lassen sich die Migrant*innen aber nicht vorschreiben. Die Reglementierungsversuche der DDR und auch der Vertretungen der Herkunftsländer greifen oft ins Leere. Viele soziale Aktivitäten werden gemeinsam organisiert: Partys im Gemeinschaftsraum, in die Disco tanzen gehen, Reisen in andere Städte, Sport oder gemeinsames Kochen im Wohnheim. Frauen haben hier weniger Bewegungsspielraum als Männer.
»Die DDR hat auch komische Musik
An den Wochenenden fahren viele der Vertragsarbeiter*innen zu Besuchen in andere Städte der DDR. Da sie keinen Einfluss auf die Wahl ihres Einsatzortes hatten, wohnen Freund*innen oder Verwandte häufig weit entfernt. Bei den Werktätigen aus Vietnam kommt es vor, dass Ehepaare an verschiedenen Orten eingesetzt werden. Die Reisen sind den Betrieben ein Dorn im Auge. In den Kontrollberichten tauchen regelmäßig Beschwerden darüber und über die sich bisweilen daran anschließenden Krankmeldungen auf. (BArch 2)
»Wir sind viel weggefahren und haben selbst Disco gemacht
Ein weiterer Reisegrund am Wochenende sind Fußballturniere und andere Sportveranstaltungen, die im ganzen Land stattfinden. Sport spielt eine wichtige Rolle in der DDR. Auch die Migrant*innen nehmen an Wettkämpfen in Betrieben, Bezirken oder Landkreisen teil. In vielen Betrieben gründen die ausländischen Werktätigen eigene Fußballmannschaften – meistens nach Herkunftsland getrennt. Eigenständige Vereine dürfen sie nach den Regeln des Turn- und Sportbundes nicht gründen, nur ausländische Mannschaften innerhalb eines Vereins sind erlaubt. So treten mosambikanische, vietnamesische oder kubanische Teams an. Die Teilnahme an Wettbewerben ist allerdings nur bis zur Bezirksebene möglich. ( Mac Con Uladh 2005, 58)
Rassismus statt „Brüderschaft trinken“
Wenn die Vertragsarbeiter*innen am Wochenende nicht unter sich bleiben, sondern Diskotheken oder Gaststätten besuchen, erfahren sie oft Ablehnung und rassistische Anfeindungen. Nicht selten kommt es auch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. In den Akten sind zahlreiche Vorgänge dokumentiert. Ein Beispiel ist ein „besonderes Vorkommnis“ im Oktober 1982 in Orlamünde.
In der ersten Meldung des Betriebsdirektors an das Staatssekretariat für Arbeit und Löhne wird der Vorfall so dargestellt:
Zehn mosambikanische Vertragsarbeiter möchten eine Gaststätte besuchen. Die dort versammelten Gäste verwehren ihnen den Zutritt mit der Begründung, dies sei eine geschlossene Gesellschaft. Die Mosambikaner protestieren und „stiften Unruhe“ wie im Sofortbericht am Tag nach dem Vorfall zu lesen ist.
Der Betriebsdirektor beschreibt die weitere Entwicklung der Situation:
„die mocambiq. bürger wurden aus der gaststätte gedrängt. neun moc. kollegen überquerten einen unmittelbar vor der gaststätte befindlichen beschrankten bahnübergang. ein moc. bürger musste an dem geschlossenen bahnübergang warten. er wurde von vier deutschen bürgern geschlagen.“
„er machte sich frei und versuchte über die schienen zu entkommen. dabei wurde er von einer lokomotive erfassst und von den gleisen geschleudert.“
„der betroffene moc. bürger befindet sich in stationärer behandlung in jena. er ist schwer verletzt. das vpk poessneck (Volkspolizeikreisamt Poessneck) übergab die weitere untersuchung an die vpk jenaer land und die transportpolizei“ (BArch 4)
„Schuldfragen bei DDR Bürgern sind nicht zu klären“
Schon drei Wochen später ist der Vorfall durch die Volkspolizei aufgeklärt. In einem erneuten Bericht teilt der Betriebsdirektor die polizeilichen Ermittlungsergebnisse mit. Deutsche Bürger*innen trifft keine Schuld.
Über den Gesundheitszustand des verletzten Afonso M. gibt es keine weiteren Eintragungen.
Um den Verletzten kümmert sich sehr wahrscheinlich der mosambikanische Gruppenleiter. Er hat die Aufgabe, bei Problemen und Konflikten zu vermitteln und sie möglichst im Sinne des Betriebes zu lösen.
Gruppenleiter*innen im Zwiespalt
In jeder Gruppe von Vertragsarbeiter*innen gibt es von der Vertretung der Herkunftsländer ernannte Gruppenleiter*innen, die für die Kommunikation zwischen Botschaft, Betrieb, Heimleitung und Werktätigen verantwortlich sind. Mit dieser Position sichern sich beide Seiten Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten. Die Gruppenleiter*innen sind in der Regel für diese Tätigkeit von ihrer Arbeit freigestellt. Ausgewählt werden sie von den Vertretungen der Herkunftsländer. Die SR Vietnam achtet besonders streng darauf, dass diese Position nur mit politisch zuverlässigen und absolut loyalen Personen besetzt wird. Die Aufgaben der mosambikanischen Gruppenleitung werden im Abkommen so beschrieben:
»Wir sind jung und frei
David Macou ist als Gruppenleiter im VEB Braunkohlewerk Welzow eingesetzt. Ibraimo Alberto wird 1985 Gruppenleiter für junge neu eingereiste Mosambikaner im VEB Glaswerk Stralau in Berlin. Sie berichten über ihre Erfahrungen und die zwiespältige Rolle in dieser Position aber auch von Möglichkeiten der Veränderung.
Die Familie unterstützen
Viele vietnamesische Vertragsarbeiter*innen arbeiten auch nach Feierabend. Sie stehen unter großem Druck. 15 Prozent ihres Bruttoeinkommens müssen sie an den vietnamesischen Staat zum Aufbau des Landes abtreten. Außerdem wird erwartet, dass sie ihre Familien in Vietnam mit Warensendungen unterstützen. Auch das ist im zwischenstaatlichen Vertrag geregelt: Die vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen dürfen pro Person zwölf Mal jährlich ein Postpaket im Wert von 100 Mark nach Vietnam schicken und sechs Mal im Jahr eine zollfreie Postsendung ohne Wertbegrenzung. Die größte Anstrengung bedeutet das Befüllen der Kiste, die jede*r anlässlich des Heimaturlaubes und am Ende des Aufenthaltes mitnehmen darf: Ein bzw. zwei Kubikmeter mit maximal einer Tonne Höchstgewicht sind erlaubt. (Dennis 2005, 21)
Mit den Kisten rechnen nicht nur die Familienangehörigen. Für die vietnamesische Regierung sind diese Warenlieferungen ein wesentlicher Grund für die Entsendung der Arbeitskräfte nach Deutschland. Was und in welchen Mengen in die Kisten darf, ist genau geregelt. Ein Bericht der Staatssicherheit hält ein Gespräch zwischen dem Staatssekretariat für Arbeit und Löhne und einer Delegation des Ministeriums für Arbeit, Kriegsversehrte und Sozialwesen der SR Vietnam fest.
Um die benötigten Waren zu besorgen, reicht der Lohn der vietnamesischen Werktätigen nicht aus. Einige beginnen Kleidung zu nähen, vor allem Jeans, die sie auf informellen und privaten Wegen an eine vorwiegend deutsche Kundschaft verkaufen. Sie bedienen damit einen Bedarf, der von der DDR- Planwirtschaft nicht erfüllt wird. Mit dieser Tätigkeit verstoßen sie nicht gegen Gesetze. Geduldet von der vietnamesischen Leitung und den deutschen Behörden entstehen in den Wohnheimen Werkstätten für Jeans, Hemden und andere Kleidungsstücke. Ein breites, gut organisiertes Netzwerk bildet sich, von dem viele Seiten auch durch Bestechung profitierten.
»Bestellt wurden meistens Jeanshosen
Die Beschaffung der Stoffe und Utensilien zum Nähen und der Waren für die Kisten ist in der Mangelwirtschaft der DDR nicht einfach. Auch bestimmte Lebensmittel wie zum Beispiel Reis sind nur begrenzt verfügbar und decken nie die Nachfrage. Vietnamesische Vertragsarbeiter*innen werden von der Bevölkerung häufig als Konkurrent*innen um knappe Konsumgüter angesehen und angefeindet. Gerüchte entstehen, sie verdienten Westgeld und bereichern sich persönlich. Häufig sind sie Zielscheibe von Beschimpfungen und Hass.
In den späten 1980er Jahren verschärft sich die Situation für die Migrant*innen in der DDR. Die wirtschaftliche und soziale Lage wird immer schwieriger. Der Plan, diese durch die massenhafte Beschäftigung von Migrant*innen zu mildern, setzt diese massiven Aggressionen aus. Selbst die Staatssicherheit berichtet über den Rassismus, mit dem sie konfrontiert sind.
Insgesamt leben und arbeiten deutlich mehr ausländische Männer als Frauen in der DDR. Auch in der DDR spielt das Geschlecht im Alltag ein wichtige Rolle.