»Ich wusste noch nicht mal was Archivwissenschaft bedeutet
Entstanden im Kalten Krieg
Die ersten ausländischen Studierenden sind elf junge Nigerianer, die 1951 an den Weltjugendfestspielen in Ost-Berlin teilnehmen. Der Kalte Krieg hält sie in der DDR fest: Die britische Kolonialverwaltung verbietet ihnen nach dem Aufenthalt in der DDR die Wiedereinreise in ihr Heimatland. Die jungen Leute bekommen Studienplätze an der Universität Leipzig. Um sie auf das Studium vorzubereiten, wird eine Vorbereitungsklasse eingerichtet. Daraus entsteht später das für das Ausländerstudium maßgebliche Herder-Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig (Basse, o.J.).
Ein Mittel zur internationalen Anerkennung
Aus diesen Anfängen entwickelt sich das Ausländerstudium als internationales Angebot, das der politischen Anerkennung der DDR dienen soll. Diejenigen, die in der DDR studiert haben, sollen langfristig Beziehungen in alle Welt gewährleisten. Das Studium in der DDR genießt einen ausgezeichneten Ruf und hat eine weitere Besonderheit: In der Regel fallen keine Studiengebühren an. Mehr noch: Wie ihre ostdeutschen Kommiliton*innen erhalten viele migrantische Studierende ein Stipendium, das aus dem Staatshaushalt der DDR finanziert wird.
Ausgewählte Dozent*innen unterrichten die zukünftigen Studierenden, ein Intensiv-Deutschkurs und fachspezifischer Unterricht bereitet sie in der Regel ein Jahr lang auf das Studienfach vor. Die besondere Qualifikation, die auch den Werktätigen versprochen wird, bleibt jedoch meist ein Privileg der Studierenden. (Mac Con Uladh, 2005)
Im Herder-Institut
Vom Stolz auf die Studienmöglichkeiten, die die DDR jungen Leuten aus aller Welt bietet, zeugen die Fotos der DDR-Bildagentur Zentralbild. Sie zeigen fast immer fröhliche ausländische Studierende zusammen mit ihren attraktiven DDR-Lehrkräften. Die mitgelieferten Bildunterschriften betonen die damit verbundenen Absichten: „Im Studienjahr 1970-71 werden 500 Studenten ausgebildet, davon 130 aus Vietnam. Mit sehr starken Delegationen sind in diesem Jahr die SAR (Syrisch Arabische Republik), Tansania, Mali, Thailand und der Sudan vertreten. Ziel der Ausbildung ist es, die Studenten mit Fach- und Sprachkenntnissen und mit einem philosophisch-materialistischen Weltbild auszurüsten. Außerdem werden sie mit den sozialistischen Verhältnissen in unserer Republik und mit hochschulgemäßen Arbeitsformen vertraut gemacht.“
Steigende Zahlen
Auch wenn in den öffentlichen Stellungnahmen zum Studium immer wieder der Solidaritätsgedanke betont wird, zählen bei der Vergabe der Studienplätze vor allem außen- und handelspolitische Überlegungen. Die erste Grafik zeigt, wie die Zahl der zum Studium zugelassenen Ausländer*innen seit den 1970er Jahren kontinuierlich ansteigt. Die zweite Grafik verdeutlicht die besondere Aufmerksamkeit der DDR für afrikanischen Staaten und antikoloniale Bewegungen, die sich in den 1960er Jahren in der Anzahl der Studierenden niederschlägt. Anfang der 1980er Jahre bricht die DDR-Regierung mit der bisherigen Praxis und entdeckt die Hochschulausbildung als Devisenquelle. Im Rahmen des kommerziellen Studiums gibt die DDR Studienplätze an Studierende aus nichtsozialistischen Staaten, wenn diese dafür bezahlen. 1989 studieren etwa 10 Prozent der ausländischen Studierenden auf kommerzieller Basis (Elsner/Elsner 1994, 19).
Den Studierenden und politischen Emigrant*innen stellt die DDR-Regierung Wohnraum zur Verfügung. Leben im Studenten- Lehrlings- oder Arbeiterwohnheim ist in der DDR für junge Leute die Regel, auch wenn es unterschiedlich gut ausgestattete Heime gibt und die Kontrolle nicht überall gleich streng ist (Mac Con Uladh, 2005 b, 51-54). Politische Emigrant*innen erfahren allerdings eine bevorzugte Behandlung.
»Es waren auch Familien mit Kindern in solchen kleinen Zimmern
Nicht nur die Scham über die bevorzugte Behandlung als politische Emigrant*innen wirft ihren Schatten auf das Alltagsleben von Carlos Medina und Kadriye Karcı. Die Kommunistische Partei der Türkei sieht vor, dass Karcı und ihre Parteizelle als Kommune unter Leitung des Parteisekretärs zusammenleben. So ist sie, wie andere politische Emigrant*innen und Studierende, nicht nur den Regeln ihres Gastlandes unterworfen. Auch eigene ideologische Vorstellungen, Anforderungen der Partei oder der Botschaftsvertreter*innen prägen und erschweren das Leben in der DDR.
»Das letzte Wort sagt der Parteisekretär
»Ich bin aus dem Studentwohnheim ausgezogen und habe eine Wohnung im Prenzlauer Berg besetzt
Auch Pham Thi Hoais Leben im Studentenwohnheim wird von vietnamesischen Kommilitonen genau beobachtet. Bis sie aus dem ihr vorgezeichneten Weg ausbricht.
Pham Thi Hoai führt nach ihrem Auszug ein Doppelleben. Im Studium erzielt sie weiterhin ausschließlich Bestnoten. Außerhalb der Universität genießt sie ihre Freiheit. Sie hat deutsche Freund*innen, bewegt sich in Intellektuellenzirkeln und ist mit der Friedensbewegung in Kontakt. Sie will keine Minute versäumen, in der sie Neues kennenlernen kann.
Pham Thi Hoai genießt dank ihrer guten Noten und der Sympathien, die ihr von Professoren entgegengebracht werden, besondere Freiheiten. Anders ergeht es einem Freund und Kommilitonen. Er soll wegen seines zu schlechten Zeugnisses nach Vietnam zurückgeschickt werden.
»Das ist die größte Schande
… muss der angedrohte Suizid des X. im Fall einer Ausweisung als real möglich eingeschätzt werden.
Auch bei besten Noten und makelloser politischer Beurteilung stoßen Studierende an die Grenzen des Systems. X. ist ein vietnamesischer Student mit einer lupenreinen Biografie. Die Staatssicherheit schreibt über ihn:
„die eltern des x. sind arbeiter und leben in hanoi. von 1965-1973 war x. angehöriger der vietnamesischen befreiungsarmee. 1974 wurde er zum studium in die ddr delegiert. nach abschlusz des herder-institutes studierte er an der hochschule für buchkunst und graphik in leipzig. im juli 1980 schlosz er dieses studium als diplom-graphiker ab. er wurde vermittelt durch die hochschule an die staedtischen museen karl-marx-stadt. seine arbeitsleistungen wurden als ausgezeichnet eingeschaetzt. die politische einstellung ist positiv. hervorgehoben wird seine gesellschaftliche aktivitaet. nach eigenen angaben ist er mitglied des exekutivkomitiees des jugendverbandes der srv [Sozialistische Republik Vietnam] in der ddr.“ (BSTU 2)
Doch X. hat sich verliebt. Ihm und seiner Frau gelingt es, die Schwierigkeiten der Eheschließung zwischen einer DDR-Bürgerin und einem Ausländer zu überwinden. Die Abteilung Inneres beim Rat der Stadt Leipzig genehmigt im Dezember 1980 die Eheschließung. Die beiden haben eine gemeinsame Tochter. Doch die vietnamesische Botschaft besteht auf der Rückkehr und bittet die zuständige DDR-Behörde, seine Rückführung einzuleiten. X. teilt den Volkspolizisten mit, dass er bei seiner Botschaft um Genehmigung zur ständigen Wohnsitzname in der DDR gebeten hat, doch diese erhält er nicht. Die Volkspolizei gewährt im zweimal Aufschub, erklärt aber gleichzeitig, dass – falls er bis zum 21.4. die Erlaubnis nicht beibringt – seine Zurückweisung nach Vietnam erfolgt. Der ehemalige Student schreibt daraufhin an Erich Honecker einen Brief, in dem er seine Lage schildert, Unterlagen beilegt und seinen Suizid androht, falls er nicht in der DDR bleiben kann. Die Stasi erbittet Anweisung von höchster Stelle und ordnet an, mit weiteren polizeilichen Maßnahmen abzuwarten, um den angedrohten Suizid nicht herauszufordern. Die Akte über X. bricht an dieser Stelle ab.
»Chilene? Allende! Und sofort: Venceremos!
Die chilenischen Emigranten stehen im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Der Militärputsch gegen die demokratisch gewählte linke Regierung unter dem Präsidenten Salvador Allende im September 1973 empört Menschen weltweit. Die DDR-Regierung beschließt zwei Wochen nach dem Putsch, verfolgten Chilenen Asyl zu gewähren. Allerdings gilt das nur für Mitglieder und Anhänger der Unidad Popular (Maurin 2005, 347), also des gestürzten Regierungsbündnisses. Die Aufnahme der Chilen*innen gehört zum internationalistischen Selbstverständnis der SED, dient aber auch eigenen Interessen: sie soll die Parole „des Kampfes gegen Imperialismus und Kapitalismus, sowie für Sozialismus, Frieden, nationale Befreiung und Demokratie“ (Emmerling 2013, 396) als Realität erscheinen lassen. Schließlich sollte das von der Regierung gewährte Asyl „dazu beitragen, den Kommunismus in Chile zu fördern und die Herrschaft der SED in der DDR zu sichern“ (Maurin 2005, 346). In Übereinstimmung mit der chilenischen kommunistischen Partei praktiziert die DDR eine Politik der Proletarisierung der Emigrant*innen: die Mehrheit der meist akademisch gebildeten Menschen wird in der Produktion eingesetzt. Carlos Medina jedoch kann in der DDR als Regisseur arbeiten. Er gehört zur privilegierten Gruppe von etwa 50 Künstler*innen, die am Volkstheater Rostock angestellt sind.
Die Politik der Proletarisierung und die Gängelung der Exilanten bleibt nicht unwidersprochen. Die Proteste der in der DDR kalt gestellten chilenischen Revolutionäre werden von der Staatssicherheit registriert und führen schließlich zu etwas Entgegenkommen. Die Stasi berichtet (Überwachung der chilenischen Emigrant*innen):
Zum Volkstheater Rostock gehört auch die chilenischen Band Aparcoa, die in der DDR Zuflucht gefunden hat. Sie tritt bei zahlreichen Solidaritätsveranstaltungen auf, hier im Palast der Republik.
Die Mitglieder der Gruppe arrangieren sich nicht mit den Gegebenheiten in der DDR. Vier der sechs Mitglieder verlassen die DDR 1977: sie migrieren weiter nach Peru, Venezuela und Frankreich (Polster 2001, 24).
Chilenische Exilant*innen verlassen die DDR nicht nur auf eigene Initiative. Ein Jahr nach dem Militärputsch in Chile werden 21 Flüchtlinge aus der DDR ausgewiesen. Im Bericht der Stasi werden sie als „kriminelle und arbeitsscheue Elemente“ diffamiert.
Die meisten chilenischen Politemigrant*innen bleiben nicht dauerhaft in der DDR. Auch Carlos Medina kehrt in den 1980er Jahren vorrübergehend nach Chile zurück. Die Chance an europäischen Theatern zu arbeiten, führt ihn jedoch zurück in die DDR. Er gehört zu den etwas mehr als 300 Chilen*innen, die bis 1989 in der DDR bleiben.